Momente

Allzumenschliches

Nicht, dass die Wiener das Zeug zum Philosophen nicht hätten. Aber immerfort große Gedanken wälzen geht schon daher nicht, weil einem ständig das Leben dazwischenkommt – und wenn nicht das Leben, dann die Liebe. Gemütlich wird es erst im Grab, wo man endlich das wohlverdiente Totsein genießen kann. Davon, und von noch viel mehr handelt der melancholisch heitere Liederabend von Schauspieler Gottfried Breitfuss und Pianist Peter Weilacher, in dessen Verlauf virtuos ein Bogen geschlagen wird von den Anfängen der Erkenntnis bis zu einem unterschätzten Körperteil namens Männerbauch.
Neue Zürcher Zeitung vom 30.05.2021

Bittersüßer Reiz

Gottfried Breitfuss begeht mit „Addio!“ ein weiteres Kleinkunst-Soloprojekt. Diesmal mit Fokus auf den Wiener-Schmäh – schnoddrig bis arrogant, morbid bis grotesk, aber auch verführerisch ambivalent.
Den roten Teppich muss Gottfried Breitfuss eigenhändig ausrollen und so beginnt er seinen sinnierenden Abend mit den Worten: „So schlimm war’s nie wie heuer.“ Er fügt eine freie Adaption von Platons Höhlengleichnis zur Beweisführung an, dass Hoffnung in den Menschen überbewertet ist, und untermauert dies mit Schopenhauer- und Nietzsche-Zitaten. Dann lässt der Pianist Peter Weilacher die ersten Töne zu „ich bin ein unverbesserlicher Optimist“ erklingen und Breitfuss schwelgt galant durch die Textzeilen, als wär Sarkasmus das Mittel zur Linderung für einen Zukunftsschmerz, der zum Phantomschmerz wird, weil eben diese Zukunft fehlt. Respektive weil sie sattsam bekannt ist: im Grab.
Viel Georg Danzer, Ernst Kölz und Georg Kreisler bedeutet hohe analytische Trefflichkeit aus einer eben nicht himmelhochjauchzenden Perspektive. Denn Unrecht und Unglück bleiben dominierende Parameter in einem im Grunde vorwärtsstrebenden Geist, für den die Umstände und Konventionen jedes Fortkommen verhindern. In diesem Setting wirkt das bisschen Friedrich Holländer nachgerade wie Hohn, selbst wenn in diesem Mittelteil die Liebe als Antrieb und Quell für Lebenssinn an der Reihe wäre. Doch der Mann ist halt, wie er ist. Er vermasselts, übertreibts, setzts in den Sand. Bei nachmaliger Wiederholung und der Aussicht darauf, auf dem schönen Wiener Zentralfriedhof eine letzte Ruhestätte auf einen wartend zu wissen, kann der Gewissheit der eigenen Endlichkeit – wie den der verdorrten Rose auf der Bühne, die er immer wieder in den Mistkübel zu hauen droht, ihr dann aber doch noch eine Schonfrist einräumt, weil sie auch zerknittert einen Reiz verströmt – vielleicht via eine leichte Perspektivenverschiebung ein bittersüßer Trotztrost abgewonnen werden.
„Addio!“ ist in sich komplett stimmig, wenngleich nicht prädestiniert, die Stimmung im Publikum aufzuhellen. Aber ein bisschen Schwelgen in Ambivalenz – im Takt und mit Noten – passt gut in die potenzielle Wiederauflebphase nach einer langen Periode von Entbehrung, Einsamkeit und dem schwindenden Vertrauen in Zukunftsfreude. Es ist ein Klageabend ohne die alleinige Schuldzuweisung nach außen, sondern vielmehr das Auskosten der Niederungen der eigenen emotionalen Abgründe und das kokettierende Liebäugeln mit dem finalen Untergang. Der irgendwann in irgendeiner Form eintreten wird. Auch ohne eigenes Zutun. Todsicher.

Thierry Frochaux
Pszeitung.ch vom 07.06.2021

Fotos von Marie Weilacher

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